Memorandum Leitende Ärzte aus der Psychosomatik setzen sich für einen gesellschaftlichen Dialog über die psychosoziale Lage in Deutschland ein
Bad Kissingen – Spätestens seit dem Selbstmord des Fußballspielers Robert Enke vor gut einem Jahr sind Burnout und Depression nicht mehr ganz die Tabu-Themen. sie sie es waren. Fakt ist, dass immer mehr Menschen an seelischen Erkrankungen leiden. Der Anteil dieser Erkrankungen an der Arbeitsunfähigkeit nimmt seit 1980 zu, 15 bis 20 Prozent sind es derzeit.
Dieser und andere Trends führten dazu, dass Experten ihrer tiefen Erschütterung über die „psychosoziale Lage in unserer Gesellschaft“ Luft machen. I einem Memorandum fordern sie einen offenen gesellschaftlichen Dialog über die Ursachen für Seelenkrankheiten und über sinnvolles Handeln zum Gegensteuern. Di Unterzeichner sind Fachleute, die Menschen mit seelischen Erkrankungen behandeln und Verantwortung tragen für den Umgang mit psychosozialem Leid in unserer Gesellschaft. Die Initiative ging von Dr. Joachim Galuska (Klinik Heiligenfeld, Bad Kissingen) aus. Im Kreis von – bundesweit tätigen – leitenden Ärzte humanistisch-integrativer Psychosomatischer Kliniken diskutierte man die erschreckende Entwicklung wachsender psychosozialer Belastung in Deutschland und anderen Industrienationen. Ihr Schluss: Das Ausmaß der Problematik wird nicht ausreichend wahrgenommen.
Schicksale hinter der Statistik
In ihrer täglichen Arbeit erfahren diese Ärzte, unter ihnen auch der Kissinger Psychotherapeut Dr. Günter Wimschneider, vieles über persönliche Schicksale, die hinter den Statistiken stehen. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung leiden demnach binnen Jahresfrist an einer diagnostizierbaren psychischen Störung, am häufigsten an Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen und Suchterkrankungen sind inzwischen die häufigste Ursache für eine vorzeitige Berentung. Zugleich beobachten die Fachleute, dass auch immer mehr Kinder und Jugendliche psychisch erkranken, Verhaltensprobleme haben. auch Ältere leiden zunehmen daran. Nur die Hälfte der psychischen Erkrankungen wird richtig erkannt. Der Spontanverlauf ohne Behandlung aber sei ungünstig: Knapp ein Drittel verschlechtert sich, knapp die Hälfte zeigt keine Veränderung.
„Immer längere Warteschlangen in den psychosomatischen Kliniken und bei niedergelassenen Psychotherapeuten“, Dr. Günter Wimschneider, Psychotherapeut
In allen Altersgruppen, bei beiden Geschlechtern, in allen Schichten (und allen Nationen zunehmenden Wohlstands) nehmen seelische Erkrankungen besorgniserregend zu. Die Folge: Die gesellschaftlichen Kosten der Gesundheitsschäden durch Produktivitätsausfälle, medizinische und therapeutische Behandlungen, Krankengeld und Rentenzahlungen sind enorm. Angemessene medizinische und therapeutische Versorgung ist selbst in Deutschland angesichts der Dynamik und des Ausmaßes seelischer Erkrankungen nur in Ansätzen möglich. Dr. Wimschneider sagt: „Die Warteschlangen bei Kliniken oder niedergelassenen Psychotherapeuten werden immer länger.“
Die Ursache besteht nach Beobachtungen der Aufrufunterstützer in zwei gesellschaftlichen Entwicklungen: Die psychosoziale Belastung des Einzelnen nimmt zu durch individuellen und gesellschaftlichen Stress. Der kann ausgelöst sein durch Leistungsanforderungen, Informationsüberflutung, seelische Verletzungen, berufliche und persönliche Überforderungen, Konsumverführungen u.a. m. Familiäre Zerfallsprozesse, berufliche Mobilität, virtuelle Beziehungen, häufige Trennungen und Scheidungen führen dazu, dass die Betroffenen immer weniger tragfähige soziale Beziehungen haben, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Die Kompetenz, das eigene Leben zu gestalten, psychosoziale Problemlagen zu bewältigen und fehlende erfüllende, tragfähige Beziehungen reichen nicht mehr, um den Anforderungen und Herausforderungen dieser gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung zu tragen.
Erschwerend kommt hinzu, dass unsere Gesellschaft sich stark an materiellen, äußeren Werten orientiert und die Bedeutung des Subjektiven, der inneren Werte, der Sinnverbundenheit dramatisch unterschätzt. Genau darüber müsse der gesellschaftliche Dialog geführt werden: über die Bedeutung des Subjektiven, Seelischen, Geistig-Spirituellen, sozialen Miteinanders und Störungen umgehen. „Wir benötigen einen neuen Ansatz zur Prävention, der sich auf die Grundkompetenzen zur Lebensführung, Bewältigung von Veränderungen und Krisen und Entwicklung von tragfähigen und erfüllenden Beziehungen konzentriert“, sagt auch Wimschneider. Er und Kollegen plädieren für Gesundheitsbildung, das Erlernen von Selbstführung, die Erfahrung von Gemeinschaft ab dem Kindergarten, fortgesetzt in der Schule, etwa mit einem Schulfach „Gesundheit.“ Überhaupt benötige die Gesellschaft eine im echten Sinn psychosomatische Medizin, die die gegenwärtige Technologisierung und Ökonomisierung der Medizin ergänzt dergestalt, dass das Subjekt (der Mensch) und die Beziehung zu ihm einen höheren Stellenwert bekommen.
Gegen reine Profitorientierung
Eine Wirtschaftswelt dürfe sich nicht nur an Profit und Leistung orientieren. Sie benötige Sinn und Lebensorientierung für die Tätigen, kurz: „Wir benötigen mehr Herz für die Menschen.“ Nur dann gelinge eine integrierendern, sinnstiftender, soziale Bezüge erhaltender Umgang mit dem Alter. Auch politisches Handeln müsse die Auswirkungen auf psychosoziale Bewältigungsmöglichkeiten in einer alternden Gesellschaft.